Von Geben und Grenzen

Geben, das kann doch nur was gutes sein. Anderen etwas abgeben. Zeit geben. Im Job alles geben.
Zuerst an andere denken, so haben wir es gelernt. Es ist ja auch sehr löblich, umsichtig zu handeln und auch die Bedürfnisse anderer zu achten, den berühmten Mantel zu teilen.
Aber eben 'auch' und nicht nur.
Wenn ich meine eigenen Bedürfnisse nicht genug berücksichtige, habe ich irgendwann weniger Kapazitäten, für andere zu sorgen. So wie ich kein Geld verleihen kann, wenn ich nicht selbst genug davon habe - oder zumindest weiß, wieviel ich kurzfristig entbehren kann, auch wenn es dann für mich selbst knapp wird.
Selbstaufopferung bis hin zur Selbstaufgabe scheint in der Leistungsgesellschaft allerdings zur Religion geworden zu sein oder war es wahrscheinlich schon immer. Eine Gesellschaft, in der Pflichten und Tugenden gepredigt werden: leisten, kümmern, nur nicht um sich selbst. Oder zumindest erst an letzter Stelle.
Das priorisieren eigener Bedürfnisse, "Ich kann nicht mehr"  - die Sünde - sofort gefolgt von einem schlechten Gewissen.
Egoistisch! Andere einfach so hängen zu lassen. Man kann schließlich nicht immer nur an sich denken. Andere kriegen das ja schließlich auch alles hin. Also, Pobacken zusammenkneifen und sich nicht so anstellen.

Diese Paradigmen wurden und werden vielen von uns über Jahre eingeimpft, dass es Gang und Gebe ist, sein Bauchgefühl zu überhören, ein schlechtes Gewissen zu bekommen und lieber "stark zu bleiben". Lieber krank zur Arbeit als zum Arzt zu gehen, um nicht die anderen im Stich zu lassen und keinen schlechten Eindruck zu machen. Lieber beim Umzug helfen, an dem einzigen Wochenende an dem man sich von der auslaugenden Woche erholen könnte, da man nicht selbstsüchtig anderen vor den Kopf stoßen möchte.
Problematisch daran ist, dass konstantes ignorieren des Bauchgefühls stresst. Es anderen recht machen zu wollen, obwohl es einen selbst belastet setzt unter Druck.
Spätestens wenn der Druck spürbar größer wird, wäre es an der Zeit, die lange verinnerlichten Paradigmen einmal zu hinterfragen. Auch wenn man sein Verhalten nicht von einem Tag auf den anderen verändern kann, sollte die Einstellung im Kopf zum Thema Selbstfürsorge Schritt für Schritt neu gedacht werden.

Oft passiert aber genau das Gegenteil. Leute, die eigentlich üben müssten, mehr für sich selbst einzustehen und Grenzen zu setzen, beschönigen ihr sich selbst schadendes Verhalten. Sie sind eben 'gut erzogen', 'selbstlos', 'hilfsbereit', 'pflichtbewusst', 'gute' oder 'nette Menschen'. Diese Euphemismen klingen nach Erklärungen, nach "weil man schließlich so viel für andere macht" einen Schulterklopfer zu erwarten.
Schließlich hat man Kraft und Fleiß aufgewendet, um diesem allgemein als lobenswert suggerierten Anspruch gerecht zu werden. Man hat sich angestrengt um alles richtig zu machen. Das muss am Ende ja auch irgendwas wert sein.
Zu erkennen, dass es das in Wirklichkeit nicht immer ist, kann weh tun.
Genauso wie zu erkennen, dass man sich aus unterschiedlichen Gründen lediglich nicht traut "nein" zu sagen. Niemand möchte schwach oder unselbstbewusst wirken.
Deshalb ist es oft leichter, sein Verhalten als selbstlos zu glorifizieren, als sich seine vermeintlichen Schwächen einzugestehen.
Dabei liegt genau dort die Gefahr. Man reproduziert mit dieser Denk- und Sprechweise weiterhin das Ideal der Selbstaufopferung. Mit den positiv besetzten Adjektiven, werden die Werte hochgehalten anstatt hinterfragt. Selbstlos und gutmütig zu sein, das ist doch etwas tolles. Es impliziert passiv-aggressiv und vorwurfsvoll, dass gegenteiliges Verhalten schlecht ist. Ein Teufelskreis.

Um diesen zu durchbrechen, hilft es, seine vermeintlichen "Schwächen" einzugestehen, und zu üben, auf sich selbst zu achten. Zu üben, seinen Wert nicht nur davon abhängig zu machen, Erwartungen von anderen zu erfüllen, sondern ebenso die eigenen. Aushalten, dass unterschiedliche Bedürfnisse zu Konflikten führen können.
Je besser man auf sich zu hören lernt, kann man erkennen, dass die Schwächen und Fehler im System und nicht an einem selbst zu suchen sind.
Ständige Selbstoptimierung, Leistungs- und Hilfsbereitschaft, aktive Pausen, Produktivität, Verfügbarkeit können auf Dauer nicht gesund sein.
Diesem System zu unterliegen ist nicht lobenswert, nicht gutmütig, und ist nicht das Merkmal eines gut erzogenen Menschen.
Selbstlos vielleicht, aber nicht aus barmherzigen Wohlwollen, sondern weil das 'an sich selbst denken' beschämt wird. Zu sich selbst rücksichtslos. Weil man vermeiden will, als egoistisch zu gelten.

Dinge die wir für andere zu tun resultieren oft nur aus schlechtem Gewissen, oder fehlendem Mut auch mal 'Nein' zu sagen, und sind nicht immer eine gute Tat. - Und das setzen von eigenen Grenzen und Dinge für andere auch mal nicht zu tun sind keinem Fall eine verwerfliche, schlechte.
















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